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Erfolgsfaktoren für eine nachhaltige Reintegration

Stopp den eigenen Interpretationen und Zeit für die Entscheidungsfindung

Die Reintegration ist ein dynamischer Prozess. Entscheidungen und Lösungsfindungen hängen eng mit der psychischen Verfassung ab und können sich im Verlauf der Genesung ändern. Im nachfolgenden Artikel wird diese Dynamik mit dem Begriff «Arbeitshypothese» bezeichnet.

Nachmittags 13:45h: Anruf von unserem Arbeitsmediziner. Er habe soeben einen Klienten gesehen und erachte es als wichtig, dass das Case Management ihn noch kurz treffen könne. Die Fakten werden kurz übermittelt. Klient, Jahrgang 1974, Filialleiter eines grossen und stark frequentierten Detailhandelsunternehmens. Grund für die Krankschreibung: Zusammenbruch während der Arbeit. Erste Arbeitshypothese: Arbeitsüberlastung.

Während des Erstgesprächs stellt sich heraus, dass der Filialleiter vor 3 Monaten in der Filiale tätlich durch einen Kunden angegriffen worden ist. Der Klient gibt an, dass er dieses Erlebnis aber gut wegstecken habe können. Seine Symptome (Schlaflosigkeit, Gedankenkreise und Unkonzentriertheit) interpretiert er als Arbeitsüberlastung. Er habe jetzt 2 Wochen Ferien und danach sei er wieder voll leistungsfähig. Gemeinsam wird vereinbart, die Krankschreibung 1 Woche über die Ferien hinaus aufrechtzuerhalten und ein weiterer Gesprächstermin wird festgelegt. Zweite Arbeitshypothese: Traumatisches Erlebnis wird verdrängt und bedarf psychotherapeutischer Betreuung.

Nach der Rückkehr aus den Ferien wirkt der Klient sehr nachdenklich. Er habe in den Ferien seine Schwester getroffen, die besorgt um ihn sei und ihm von ihrem «BurnOut» berichtet habe. Er denke, dass er sich noch gar richtig erholt habe und dass er wohl seinen Job als Filialleiter aufgeben werde. Wenn er an die Berge von Pendenzen denke, die ihn erwarten, werde ihm ganz schlecht. Er habe bereits einen Termin mit der Regionenleiterin vereinbart, um ihr dies mitzuteilen. Die Case Managerin zeigt dem Klienten auf, dass am Rundtischgespräch mit der Regionenleiterin lediglich von Optionen gesprochen werden sollte und nicht von einer definitiven Rückstufung. An diesem Gespräch bittet die Case Managerin um Zeit – Zeit für die Genesung und Zeit für die berufliche Entscheidungsfindung. Bisher konnten in Gesprächen zwischen Klient und Case Managerin lediglich die beruflichen Optionen besprochen werden, die der Klient sieht.

Im Zweiergespräch mit der Regionenleiteirn erfährt die Case Managerin, dass diese bereits einen Vorschlag ausgearbeitet habe, den sie am Rundtischgespräch dem Klienten präsentiert: Da das Weihnachtsgeschäft vor der Türe stehe, brauche sie einen Filialleiter für die grosse und stark frequentierte Filiale. Sie habe bereits mit dem Filialleiter einer kleineren, weniger frequentierten Filiale vorbesprochen, dass dieser bis zum 31.12. die grosse Filiale übernehme würde. Der Klient mache auf die Regionenleiterin noch keinen sehr stabilen Eindruck und er solle sich Zeit für seine Genesung nehmen.

Der Klient ist spürbar erleichtert über diese zusätzliche Zeit. Das entlastet ihn sichtlich. Er habe aber gegenüber der Regionenleiterin auch ein schlechtes Gewissen, dass er jetzt zum Weihnachtsgeschäft, ihr solche Umstände mache.

Im Laufe des Coaching-Gesprächs stellt sich heraus, dass der Klient, Familienvater von zwei Kleinkindern befürchtet, dass er bei seinem Arbeitspensum zu wenig von seinen Kindern mitbekommt, da er häufig morgens das Haus verlässt, wenn sie noch schlafen und abends erst nach Hause kommt, wenn sie bereits wieder im Bett sind. Er hat für nichts mehr Zeit ausser der Arbeit. Sein Familienleben kommt zu kurz. Erstmals kommt der Arbeitsweg zur Sprache: 1.5 Std. pro Weg. Er will seine Arbeit gut machen. Er hat sein gesamtes berufliches Leben im Detailhandel verbracht und liebt seine Aufgaben. Aber nun müsse er eine Stufe zurückgehen, um mehr Zeit für seine Familie zu haben. Eventuell werde er sein Pensum von 100% zusätzlich reduzieren müssen. Wie er den Lohnausfall kompensieren werde, wisse er noch nicht. Sein Umfeld rate ihm allerdings von dieser Scheinlösung ab. Sie wissen um seine Führungsstärke und sagen ihm voraus, dass er sich nicht leicht damit tun wird, eine Stufe zurückzutreten und eine andere Person als Filialleiter zu akzeptieren. Er ist für ein Coaching bereit. Aufgrund seiner südländischen Herkunft komme für ihn eine psychotherapeutische Begleitung allerdings nicht in Frage. Bereits nach zwei weiteren Wochen, in denen er beim Hausarzt vorstellig wurde und sich ein komplementärmedizinisches Schlafmittel verschrieben liess, war der Klient für einen Wiedereinstig mit 50% bereit. Seine Symptome haben sich reduziert. Er arbeitet in der weniger frequentierten Filiale als 3. Kraft (hierarchisch 1 Stufe unterhalb des stellvertretenden Filialleiters).

In den Gesprächen stellt sich heraus, dass dem Klienten eine «Ideallösung» vorschwebt. An seinem Wohnort gibt es auch eine Filiale des Detailhandelsunternehmens. Sein Wohnort gehört aber in eine andere Region und da «seine» Regionenleiterin ihn ja so unterstütze in dieser schwierigen Zeit, wolle er es ihr nicht danken, indem er die Region wechsle. Die Case Managerin fragt den Klienten, ob sie seinen Wunsch, die Region zu wechseln mit der Regionenleiterin besprechen dürfe. Nach 2 weiteren Gesprächen willigt er ein. Dritte Arbeitshypothese: Umgang Leistungsorientierung und Selbstfürsorge erlernen.

Der Klient beobachtet beim Wiedereinstieg Verhaltensweisen vom Filialleiter der kleineren Filiale und es wird besprochen, welche Verhaltensweisen er ausprobieren, modifizieren oder übernehmen will. In einem weiteren Rundtischgespräch mit der Regionenleiterin wird vereinbart, dass sie in der nächsten Sitzung mit allen Regionalleitern, den Kollegen, der die Region des Wohnortes des Klienten betreut, einen möglichen Wechsel ansprechen werde. Sie führt aus, dass sie selbstverständlich einen guten Filialleiter im Unternehmen behalten möchte, auch wenn das heisst, dass er ihrer Region verloren ginge. Die Erleichterung, die diese Worte beim Klienten auslösen ist deutlich erkennbar. Die Regionenleiterin gibt zu bedenken, dass sie aber bereits zu diesem Zeitpunkt wissen muss, für welche Position sich der Filialleiter interessiert. Der Klient räumt ein, dass er beim Wiedereinstieg bemerkt hat, dass sein privates Umfeld doch recht hat: er möchte wieder als Filialleiter arbeiten. Bei den Reflexionen von den Beobachtungen, die der Klient während des Wiedereinstiegs gemacht hat, schält sich unter anderem ein Thema heraus: Vertrauen in die Mitarbeiter, dass sie ihre Aufgaben im Sinne des Filialleiters ausführen. Vierte Arbeitshypothese: Stärkung der Führungsfähigkeiten.

HHeute arbeitet der Klient als Filialleiter in seiner Wohngemeinde und hat einen Arbeitsweg von 10 Minuten pro Weg. An zwei Tagen pro Woche nimmt er gemeinsam mit seiner Familie das Mittagessen ein. Seine Krankheitssymptome sind nicht mehr vorhanden und er hat mit vielen Gesprächen im familiären Umfeld die Erlebnisse des tätlichen Angriffs verarbeiten können.

Selbstverständlich laufen nicht alle Begleitungen so reibungslos. Die Erkenntnis, dass der Genesungsweg länger als von ihm gedacht dauern würde, hatte der Klient relativ rasch. Sein Willen, sein eigenes Verhalten anzupassen, also der Wille zur Verhaltensänderung, kann man eher selten in einer solchen Offenheit und Ehrlichkeit beobachten. Sein Führungsverhalten hat sich fast radikal geändert. Die absolut optimale Unterstützung der Regionenleiterin kann hier nur lobend herausgestrichen werden.

Die Rolle der Vorgesetzten ist zentral bei einer erfolgreichen Eingliederung. Weshalb dieser Fall hier geschildert wird, ist, einerseits um die Wichtigkeit des Faktors Zeit zu betonen. Die Reintegration ist ein dynamischer Prozess. Entscheidungen und Lösungsfindungen hängen eng mit der psychischen Verfassung ab und können sich im Verlauf der Genesung ändern. Hätte die Regionenleitern im oben geschilderten Fall, die erste «Lösung» des Klienten angenommen – dass er sich zurückstufen lässt – hätte sie ihn wohl über Kurz oder Lang als Mitarbeiter verloren. Anderseits steckt auch eine gewisse Aufforderung an alle am Reintegrationsprozess Beteiligten dahinter, sich immer mal wieder vor den eigenen «Interpretationen» in Acht zunehmen. Wie schnell denkt man die Lösung zu kennen, weil der aktuelle Fall einen an den einen anderen Fall erinnert? Hier wäre die von Heinz von Foerster geforderte «lethologische» Grundhaltung gefragt. Unter Lethologie versteht von Foerster die Lehre des Nichtwissens (von Foerster, 2002, 305 ff.). Oder eben, einen Stopp den eigenen Interpretationen.